Eine Gute-Nacht-Geschichte für stürmische Nächte (und für alle anderen)
Von Anna Trenkwald
Es war ein stürmischer Abend im Herbst. Draußen heulte der Wind und peitschte erbarmungslos durch die Büsche und Bäume und das alte Haus ächzte und stöhnte und knackte und knirschte und klapperte.
Emma lag in ihrem Bett und konnte nicht schlafen. Sie war hundemüde, doch die vielen Geräusche um sie herum ließen sie immer wieder hochschrecken und genau wie das alte Haus konnte auch sie einfach nicht zur Ruhe kommen. Unruhig wälzte sie sich hin und her, zuckte zusammen und griff wieder und wieder nach Mamas Hand.
„Hab keine Angst“, flüsterte Mama und strich sanft über ihr Gesicht. „In Nächten wie diesen erwacht selbst das alte Haus aus seinem tiefen Schlaf und beginnt zu erzählen. Wenn du aufmerksam lauschst, kannst du es hören...“
Doch Emma hörte nur das Ächzen und Stöhnen, das Knacken und Knirschen und Klappern. Und überhaupt, seit wann konnten Häuser denn sprechen?
„Hör genau hin“, sagte Mama noch einmal und beide schlossen sie die Augen und lauschten.
Und dann mit einem Mal konnte Emma es hören. Zunächst noch wie ein kaum vorhandenes Raunen und Flüstern. Doch je länger sie lauschte, umso deutlicher konnte sie einzelne Worte darin erkennen. Und auch das alte Haus bemerkte seine neue Zuhörerin und begann zu erzählen.
Von der Familie, die es vor über hundert Jahren erbaut hatte. Von den vielen Menschen und Tieren, die seither darin gelebt hatten. Von den Kindern, die wie Emma darin gespielt und gelernt, gegessen und geschlafen, gelacht und geweint hatten.
Es erzählte von Festen und Feiern, vom gemeinsamen Lachen, Tanzen und Musizieren, von fröhlichen Spielenachmittagen und spannenden Kinoabenden, von ausgedehnten Mahlzeiten und winterlichen Plätzchenbacktagen, von Rollenspielen, Verstecken und Kissenschlachten. Aber es erzählte auch von Trauer, von Streit und Uneinigkeit, von Tränen, die geweint, und bösen Worten, die gesprochen wurden. Denn auch das hatte es hier natürlich in den vielen, vielen Jahrzehnten gegeben.
Es erzählte von lauen Frühlingstagen, an denen die ersten sanften Sonnenstrahlen seine alten Mauern berührten. Von heißen Sommertagen, an denen die grünen Fensterläden bereits am Morgen verriegelt wurden, um die erbarmungslose Hitze auszusperren. Es erzählte von stürmischen Herbsttagen, so wie heute, an denen es all seine Kraft benötigte, um Holzbalken, Ziegeln und Putz zusammenzuhalten und seine Bewohner vor den draußen tobenden Elementen zu schützen. Und von klirrend kalten Wintertagen, an denen im Wohnzimmer der Holzofen angeschürt wurde und das Feuer überall sein heimeliges Licht verbreitete.
Doch irgendwann merkte das alte Haus, dass Emma müde war. „Soll ich dir noch ein Schlaflied vorsingen?“, fragte es. Und als Emma, die Augen schon halb geschlossen, zufrieden lächelte und nickte, begann es leise zu summen. Und sein Summen vermischte sich mit dem Wind, der draußen noch immer in den Bäumen rauschte und murmelte und den Blättern, die leise raschelten. Es vermischte sich mit dem Knacken und Knarzen der alten Holzbalken und dem Klappern der Schieferziegeln auf dem Dach. Es vermischte sich mit Emmas Atem und dem langsamen, beruhigenden Pochen ihres Herzens. Und erst als Emma schon lange eingeschlafen war, verklang es irgendwann ganz sanft und leise in den unendlichen Weiten der Nacht.
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