Auf gute Nachbarschaft

Eine Tauschgeschichte für den Schreibwettbewerb von „GAMBIO – Der perfekte Tausch“

Von Anna Trenkwald

Bei der Themenvorgabe „Ravioli & ‚In the air tonight‘ von Phil Collins“ hatte ich ja eigentlich direkt eine Festivalgeschichte im Kopf. Oh, wie gut ich mich daran erinnern kann, wie ich in meiner Jugend bei „Rock im Park“, „With Full Force“ oder „Summer Breeze“ unzählige Dosen halb erwärmter Ravioli in mich hineingeschaufelt habe – in diesem Moment eine wahre Delikatesse.

Dann kam mir aber eine ganz andere Idee. Und so ist – für mich völlig untypisch – diese vor Kitsch triefende Lovestory entstanden.

Ach ja… Weil ich die Längenvorgabe von etwa 200 Wörtern beim ersten Mal gekonnt überlesen habe, findet ihr hier die ursprüngliche Fassung meiner Kurzgeschichte, die immerhin stolze 1000 Wörter lang geworden ist. Wen die kurze Version – und damit die Version, die ich für den Wettbewerb eingereicht habe – trotzdem interessiert: Schaut mal auf meiner Instagram-Seite vorbei!

Jetzt aber: Viel Spaß beim Lesen meines Beitrags zum Schreibwettbewerb von @projekt.gambio: „Auf gute Nachbarschaft“!

Leise summend rollte Clara den Teig aus und bewegte sich dabei im Takt der Musik, die in voller Lautstärke aus den Boxen ihrer Stereoanlage erklang: „I can feel it coming in the air tonight, oh lord…“ Sie gab jeweils einen kleinen Klecks Füllung auf die Ravioli und legte die zweite Nudelplatte darauf. Dann strich sie mit ihren Fingern sanft über die Ränder, um die kleinen Teigtaschen zu verschließen.
Als sie fertig war, stellte sie ihr Werk noch einmal in den Kühlschrank. Kochen würde sie die Ravioli erst, wenn Tim da war. Frisch aus dem Kochtopf schmeckten sie einfach am allerbesten und zum Glück dauerte es ja nur zwei bis drei Minuten, bis die gefüllten Nudeln gar waren. Und wer weiß, ob sie überhaupt direkt zum Essen kommen würden…
Beschwingt tanzte sie zu Phil Collins’ Rhythmen durch die Küche. Mit der Musik ihres Lieblingssängers im Ohr und der Aussicht auf ein vielversprechendes Blinddate konnte heute eigentlich nichts mehr schiefgehen. Jetzt noch den Rotwein öffnen und schon einmal atmen lassen…
Clara ging in die Speisekammer, trat an das Flaschenregal – das durfte doch nicht wahr sein! Sie konnte sich noch genau daran erinnern, wie sie die Flasche vor einigen Tagen gekauft hatte. Wie lange sie vor dem großen Regal gestanden und gegrübelt hatte, welches wohl der beste Wein für einen solchen Anlass wäre. Und wie ihre Entscheidung dann letztendlich auf einen sündhaft teuren Primitivo gefallen war. Hatte sie die Flasche etwa im Supermarkt an der Kasse stehen lassen?
Sie schaute auf die Uhr. Fünf Minuten vor sieben. In einer knappen Dreiviertelstunde wollte Tim hier sein und sie musste sich auch noch frisch machen und umziehen. Das würde sie niemals schaffen!
Blieben nur zwei Optionen: Die billige Flasche Lambrusco, die seit einer Bestellung beim Pizzalieferservice vor zwei Jahren ein staubiges Dasein im hintersten Eck der Speisekammer fristete – eigentlich keine ernstzunehmende Option. Oder der Gang zum neuen Nachbar, der vor einer knappen Woche in der Wohnung gegenüber eingezogen war und den sie bisher noch nicht kennengelernt hatte. „Hi, ich bin Ihre neue Nachbarin, haben Sie eine Flasche Wein für mich?“ Na, das würde bestimmt ein starker Auftritt werden. Aber was sollte sie machen…

Clara ging ins Bad. Sie kämmte sich die Mehlreste aus den dunklen Haaren und steckte sie zu einem lockeren Dutt zusammen. Dann spritzte sie sich etwas kaltes Wasser ins Gesicht, ging nach nebenan ins Schlafzimmer und öffnete den Kleiderschrank. Das kleine Schwarze verwarf sie direkt wieder – definitiv overdressed. Jeans und T-Shirt – irgendwie zu langweilig. Nachdem sie einmal den kompletten Inhalt ihres Kleiderschranks durchforstet hatte, entschied sie sich schließlich für eine leichte Stoffhose und ein schlichtes schwarzes Seidentop – dezent, aber doch verführerisch. Damit konnte sie nichts falsch machen.
Schnell noch ein bisschen Mascara, ein Hauch Rouge auf die Wangen, das musste genügen. Auf keinen Fall wollte sie übertrieben oder unnatürlich herüberkommen. Tim war eher der bodenständige Typ Mann und machte sich wenig aus Äußerlichkeiten. Sagte er zumindest. Noch ein letzter prüfender Blick in den Spiegel: Ja, so gefiel sie sich. Und ihm würde sie mit Sicherheit auch gefallen.
Clara schloss die Schlafzimmertür. Wenigstens wäre das schon einmal erledigt, falls bei der Sache mit dem Wein gleich doch noch etwas schiefging. Sie warf einen Blick auf die Uhr. Zehn Minuten nach sieben, jetzt aber schnell.
In der Küche füllte sie schnell eine Portion Ravioli in eine kleine Schüssel – zum Glück hatte sie reichlich davon vorbereitet. Wenn sie schon nicht den besten ersten Eindruck bei ihrem neuen Nachbar hinterlassen würde, dann wollte sie ihm wenigstens eine Kleinigkeit zum Tausch anbieten.
Sie prüfte noch einmal, ob sie den Schnapper auch nicht vergessen hatte. Dann zog sie die Wohnungstür hinter sich zu und ging raschen Schrittes über den Gang zur gegenüberliegenden Wohnung.

Die Türklingel läutete. Nichts passierte. Vermutlich war es doch eine dumme Idee gewesen.
Clara war schon im Begriff zu gehen, als sie ein Poltern hinter der Tür hörte, gefolgt von einem: „Komme gleich!“ Wow, was für eine Stimme! Sie bekam eine leichte Gänsehaut und musste schmunzeln. Das sollte sie Tim vielleicht lieber nicht gleich beim ersten Date erzählen.
Einen Moment später wurde die Tür geöffnet und… Die Stimme hatte nicht zu viel versprochen. Der attraktive charismatische Mann, der hinter der Tür zum Vorschein kam, hatte definitiv nichts mit Claras bisherigen Nachbarn gemein, so viel stand fest.
„Sie sind bestimmt die Nachbarin von gegenüber“, stellte er mit einem charmanten Lächeln fest.
„Ich, äh, ja, ich, ja, das bin ich.“ Mein Gott, wie peinlich. Da stand sie nun wie ein kleines Schulmädchen, stammelte herum und wusste nicht, was sie sagen sollte. Weshalb war sie nochmal hergekommen?
„Ich habe Ravioli gemacht.“ Sie streckte ihm die Schüssel entgegen. „Möchten Sie, also, mir ist leider der Rotwein ausgegangen. Hätten Sie vielleicht eine Flasche? Die hier sind für Sie.“
Mit einem Schmunzeln drehte er sich wortlos um und verschwand rechts hinter einer Tür. Das musste bestimmt die Küche sein. Sie hörte das Klappern von Schränken. Eine Schublade wurde geöffnet und wieder geschlossen. Und da war noch etwas anderes. Es klang wie leise Trommelschläge, weit entfernt, aber doch deutlich wahrnehmbar.
In diesem Moment kam er zurück aus der Küche, in seiner Hand eine Flasche Rotwein. Er schaute auf die Flasche, dann in ihre Augen. Da war es wieder, dieses charmante Lächeln. Die Trommelschläge im Hintergrund waren lauter geworden, durchdringender.
Clara fiel auf, dass die Flasche, die er in der Hand hielt, bereits entkorkt war.
Er bemerkte ihren Blick. „Und jetzt?“, fragte er. „Wollen Sie wirklich die ganze Flasche alleine trinken oder trinken wir sie vielleicht lieber gemeinsam?“
In diesem Moment erklangen aus dem Inneren der Wohnung die ersten Akkorde von Phil Collins’ „In the air tonight“ und es traf sie wie ein Blitz. Alle Gedanken an den bevorstehenden Abend mit Tim waren auf einmal vergessen. Sie hatte nur noch Augen für… Ja, wie hieß er eigentlich? Gerade noch konnte sie ein albern-nervöses Kichern unterdrücken.
Als hätte er ihre Gedanken gelesen, streckte ihr Nachbar die Hand aus und lächelte sie an. „Ich bin übrigens Tim“, sagte er mit einem Zwinkern.